„Für alle. Mit Herz und Verstand“
Liebe Pfarrgemeinde,
für mich sind es gerade gesellschaftlich besondere Wochen, in denen wir leben.
Am 27. Januar wurde an die Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz gedacht; 80 Jahre sind seither vergangen und unvorstellbare Grausamkeiten nahmen ihr Ende. Vor 25 Jahren sprach Elie Wiesel an diesem Gedenktag im deutschen Bundestag als Überlebender von Ausschwitz. Seine Botschaft: Gleichgültigkeit ist das Gegenteil von Liebe.
Das alles geht mir in den letzten Tagen immer wieder durch den Kopf. Was geht mich mein Nachbar an? Was geht mich ein Krieg an, der nicht hier geführt wird? Was geht mich das Leid anderer an? Was gehen mich die Lebensbedingungen der Menschen an, die für uns Waren herstellen? Was geht mich die nächste Generation an? Ich frage auch mich, ob ich gleichgültig so vielem und so vielen gegenüber bin. Bin ich zu bequem und denke nur an meinen Vorteil? Was tue ich? Für was und wen setze ich mich ein?
Am 23. Februar wählen wir einen neuen Bundestag. Die christlichen Kirchen in Hessen rufen dazu auf, dieses Recht wahrzunehmen. Sie schreiben:
„Wir setzen uns ein für Menschenwürde, Nächstenliebe und Zusammenhalt. Wir setzen uns ein für Demokratie und gegen Extremismus. Wir setzen uns ein, dass Denken und Handeln auf das Wohl aller Menschen hin ausgerichtet sind.
Kurz: wir setzen uns dafür ein, Herz und Verstand zusammenzubringen, wenn wir gute Antworten auf komplexe Fragen finden wollen und eines zu bedenken: „Für alle. Mit Herz und Verstand“
Im Markusevangelium können wir lesen:
„Da traten Jakobus und Johannes zu Jesus und sagten: Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst. Er antwortete: Was soll ich für euch tun? Sie sagten zu ihm: Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den anderen links neben dir sitzen. …Als die zehn anderen Jünger das hörten, wurden sie sehr ärgerlich. Jesus aber rief sie alle zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein. Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen.“ (Markus 10,43)
„Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein…“
Nein, einen Wahlkampf könnte Jesus auf diese Weise nicht gewinnen. Wäre die Jesusbewegung eine übliche Partei, müssten sich Jakobus und Johannes enttäuscht abwenden: Sie sollen das gleiche Schicksal erleiden wie Jesus selbst. Einen Gewinn, ein besonderes Vorrecht oder eine bestimmte Machtbefugnis können sie daraus aber nicht ableiten. Wir wissen nur allzu gut, wie ernst die richtige Sitzordnung genommen wird: Wer darf als erstes den Raum betreten? Wer sitzt wo? Wer erhält einen Ehrenplatz in der ersten Reihe? – Die Sitzordnung im Reich Gottes aber bleibt vorerst offen.
Immer wieder hat Jesus auf seinem Weg keinen Zweifel daran gelassen, was ihn erwartet. Er ist sich der angespannten Situation bewusst – und er weicht ihr nicht aus. Er bleibt seiner Sendung treu, bis zur letzten Hingabe am Kreuz. Was hier geschieht, stellt alle menschlichen Maßstäbe auf den Kopf: Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen. Was Jesus vorlebt, stellt auch in der Kirche die Maßstäbe auf den Kopf – denn wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.
Mal ehrlich, wie sieht es denn bei uns selber aus? Bleiben nicht auch wir hinter dem hohen Anspruch, der hier formuliert wird, zurück?
Die Nachfolge, die Jesus von seinen Jüngern und auch von uns fordert, ist nur in einer lebendigen Beziehung zu ihm zu leben. Sie ist kein fester Besitz. Vielmehr sind wir alle immer wieder von neuem aufgerufen, in Wort und Tat, in Liturgie und tätiger Nächstenliebe lebendig Zeugnis zu geben.
Wir haben also noch ein paar Tage Zeit, bis wir unsere Stimme abgeben werden. Nutzen wir sie und prüfen wir unsere Entscheidung mit Herz und Verstand.
Ihr Joachim Kahle
