Was uns Menschen zusammenhält
Medizinethiker Giovanni Maio sprach in Hattersheim
Der Saal im Gemeindezentrum St. Barbara war erfüllt von einer ungewöhnlichen Konzentration, als der Mediziner und Philosoph Prof. Dr. Giovanni Maio im Rahmen einer Veranstaltung der Katholischen Erwachsenenbildung Main-Taunus (KEB) sprach. Die Teilnehmenden saßen dicht beieinander, viele mit gefalteten Händen, und lauschten einem Referenten, der ihnen nichts weniger anbot als einen neuen Blick auf das Menschsein. Gleich zu Beginn griff der Moderator Meinhard Schmidt-Degenhard einen Satz aus Maios Buch „Ethik der Verletzlichkeit“ auf, um in den äußerst erkenntnisreichen Abend einzuleiten: „Wir leben in einer Zeit, die bestimmt ist von Erfahrungen und Eindrücken der Verletzlichkeit.“ Dies war der gedankliche Boden, auf dem sich das Gespräch dieses Abends entfaltete.
Zeit der Unsicherheit
Maio sprach von den Herausforderungen unserer Gegenwart, von innereuropäischen Kriegen, von einer Gesellschaft, die durch die Pandemie verunsichert wurde und von einer neuen Schärfe in weltanschaulichen Rissen. Alles sei unsicher geworden, sagte er, und Menschen erlebten ein Gefühl der Ausgesetztheit. Dies sei das Grundgefühl unserer Zeit. Unsere gesamte Existenz sei nicht gesichert, nicht im Blick auf kommende Generationen und auch nicht angesichts des eigenen Lebens. Doch gerade diese Unsicherheit, betonte Maio, sei kein Defizit, sondern die Bedingung unseres Menschseins.
Was wir aus Corona hätten lernen können
Auf die Frage, was wir aus Corona hätten lernen können, antwortete Maio mit einer Mischung aus Klarheit und Bedauern. Wir hätten seiner Meinung nach viel lernen können, doch es habe eine „Hermeneutik der Angst“ dominiert. Statt die universelle Verletzlichkeit als gemeinsame menschliche Erfahrung zu benennen, seien „vulnerable Gruppen“ geschaffen worden – ein Denkfehler, wie er deutlich machte. Denn verletzlich sei schließlich jeder Mensch. Tatsächlich hätte die Pandemie uns lehren können, dass Verletzlichkeit eben keine Ausnahme, sondern die Grundsituation des Menschen ist.
Der Mensch als Beziehungswesen
Aus dieser Grundsituation leite sich die Bedeutung von Beziehung und Sorge ab. Der Mensch sei ein Beziehungswesen, so der Mediziner. Ein Ich brauche ein Du, damit ein Wir entstehen könne. Schon der Blick auf den eigenen Körper mach deutlich, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Bevor wir überhaupt denken konnten, waren wir bereits verletzlich: Ein Kind, das geboren wird, ist ohne Beziehung nicht lebensfähig. Unser Körper sei nicht nur Begrenzung, sondern ein Tor zur Welt – er mache uns durchlässig für Freude, Schmerz, Begegnung, Verlust. In dieser Durchlässigkeit liege die Fähigkeit zur Empathie.
Verletzlichkeit als Ressource
Maio plädierte dafür, Verletzlichkeit nicht als Mangel zu betrachten, sondern als Ressource. Wer die eigene Anfälligkeit anerkenne, könne dem Leiden anderer mit Sensibilität begegnen. In dieser Haltung werde Verletzlichkeit zu einer „Zutrittspforte“ für menschliche Verbundenheit. Und sie sei der Grund, weshalb ärztliches Handeln Beziehung brauche. In der medizinischen Ausbildung, kritisierte Maio, lernten Studierende viel über Therapien, Operationen und Technik – aber kaum darüber, wie man mit erkrankten Menschen spricht. Der Kranke dürfe nicht als „Kunde“ gesehen werden, der souverän Entscheidungen treffe. Krankheit mache jeden Menschen bedürftig und Bedürftigkeit brauche (Für-) Sorge.
Flüchtigkeit und Fürsorge
Die Leistungsgesellschaft jedoch, bemerkte Maio, setze uns unter Druck. Wer nicht mehr „funktioniert“, fühl sich schnell als Versager. Doch diese Logik sei trügerisch. Alles, was wir können, jede unserer Fähigkeiten, sei flüchtig. In dem Moment, in dem es uns gut gehe, sollten wir uns dieser Flüchtigkeit bewusst werden, denn nur dann könne Sorge zu einem zentralen Wert werden. Verletzlichkeit anzunehmen bedeute, die eigene Endlichkeit anzuerkennen. Aus dieser Anerkennung könne eine neue Kultur entstehen: eine Kultur der Sorge, in der Verantwortung nicht Last, sondern Beziehungsgeste ist.
Kontingenz und kreativer Umgang
Immer wieder kamen die zuhörenden an diesem Abend ins Nachdenken, besonders als der Philosoph von „Kontingenz“ sprach. Damit meint er jenes Wissen, dass jederzeit etwas geschehen kann, dass uns verletzt, ohne, dass wir es verhindern können. Diese Unabsehbarkeit ist kein Schicksalsfatalismus und Menschen seien keine Sklaven der Fügung. Sie könnten zum Gestalter werden, indem sie einen kreativen Umgang mit den Unabänderlichkeiten suchen. Krankheit beispielsweise könne Beziehungen zu anderen vertiefen und sie könne den Blick auf das Wesentliche schärfen.
Vertrauen und Veränderung
Zum Schluss wandte sich Maio der Frage des Vertrauens zu. Vertrauen, sagte er, sei der Zustand, in dem man Verletzlichkeit zulässt. Und er ergänzte den Satz, der im Saal nachhallte. Es gehe nicht darum, die eigene Verletzlichkeit zu zelebrieren, sondern darum, sie zu realisieren. Denn dies führe unweigerlich zur Erkenntnis, dass auch unser Gegenüber verletzlich ist. Wenn diese Einsicht in der Gesellschaft Fuß fasse, könnte sich tatsächlich etwas verändern.